Der Gimli-Glider 3(5)
Landung auf der Royal Canadian Air Force Base Gimli Weder die Piloten noch die Lotsen wussten also, was nun auf sie zukam. Niemandem war bekannt, dass die Hauptlandebahn 32L des Flugplatzes inzwischen für Autorennen genutzt wurde. Schlimmer noch: Am 23. Juli war der "Familientag" des Motorsportclubs von Winnipeg. Dutzende Eltern hatten ihre Autos und Campingwagen am Rande der Rollbahn geparkt und sahen bei einem Kart-Rennen zu, in dem sich ihre Kinder gerade der Zielgeraden näherten. Da schwebte auf einmal fast geräuschlos Flug Nr. 143 mit seinen ausgefallenen Triebwerken heran. Obwohl es schon dämmrig war, sahen Eltern und Kinder voll ungläubigem Staunen, wie sich das riesige Großraumflugzeug immer weiter auf sie herabsenkte, und sie stieben in allen Richtungen davon. Pearson war inzwischen "allein" mit seiner 767. Er war bereits so tief, dass die Maschine vom Winnipeg-Radar nicht mehr erfasst wurde. Darüber hinaus stellte er nun bei Sichtkontakt fest, wie kurz die Landebahn war und dass sich dort, wo er nun im Begriff war, seine 156 Tonnen-Boeing zu landen, Kinder spielten und dass er auch noch zu hoch war, um gleich auf den ersten Metern der Runway aufzusetzen. Und
gleich noch ein weiterer Schock dazu: Die RAT lieferte nicht genügend
Strom und damit Hydraulikdruck für das Ausfahren des Fahrwerks. Das
Hauptfahrwerk war zwar durch die eigene Schwerkraft richtig ausgefahren, aber das
Bugrad musste "von Hand" betätigt werden (wenigstens dafür gab
es eine Prozedur im QRH, dem Quick Reference Handbook). Aber im Cockpit
blieb ein rotes Gear-Lämpchen, das Bugrad war also nicht eingerastet. |
Der Gimli-Glider bei Wikipedia |
Zu hoch, zu schnell, kein Bugfahrwerk und spielende Kinder auf der zu kurzen
Landebahn - das war die Situation zu diesem Zeitpunkt. Was macht ein
Pilot in einer solchen Situation? Er erinnert sich an den Beginn seiner
Fliegerkarriere als Segelflieger und macht ein ebenso riskantes wie
schwieriges Flugmanöver: Er legt das Querruder nach rechts und tritt das
linke Pedal für das Seitenruder bis an den Anschlag nach links. Durch
dieses "Sideslipping" verliert die 767 sehr schnell an Höhe und
Geschwindigkeit. Segel- und Sportflieger nutzen diese Methode, um schnell
an Höhe zu verlieren, weil sie keine speed-brakes haben. Man muss sich
auch vorstellen, dass während dieses äußerst risikoreichen Manövers
die Geschwindigkeitsanzeige fast völlig verschwindet, da der
Luftdrucknehmer nicht mehr im Luftstrom liegt. |
Gleitflug
AC 143 |
Der Pilot musste sich also völlig auf sein "Fluggefühl" verlassen, ganz zu schweigen davon, wie schwierig es ist, ein so großes Flugzeug in dieser nur schwer kontrollierbaren Fluglage zu halten. Es ist auch schlicht verboten, ein solch großes Flugzeug überhaupt in eine solche Fluglage zu bringen! Und man denke mal an die 61 Paxe: Die linke Seite der Passagiere schaut in den blauen Abendhimmel, die rechte Seite schaut den Golfern zu auf dem nahegelegenen Golfplatz. Pearson hielt die 767 so lange wie möglich im Sideslipping. Quintal sah das große "X" (die Bezeichnung für "Runway out of order") und die vielen Leute auf der Landebahn und wollte noch seinen Kapitän darauf aufmerksam machen, aber er hielt es für angebracht zu schweigen. Im letzten Moment und nicht einschätzen könnend, ob der Hydraulikdruck reicht, zieht Pearson die Boeing zurück auf die Landebahnrichtung. Mit
180 Knoten, also rund 30-50 kn schneller als normal, setzte
die
Maschine mit solcher Wucht auf, dass zwei Reifen des Fahrwerks
platzten. Durch das Geräusch des Aufsetzens wurden auch die letzten
Personen aufmerksam, die sich noch auf der Landebahn befanden, unter ihnen
ein Kartmechaniker mit einem 20-Liter-Rennbenzinkanister in der Hand!!! Aber
alle schafften es noch, rechtzeitig von der Bahn zu fliehen. |
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Das Hauptfahrwerk hielt der hohen Belastung stand. Nur das Bugfahrwerk knickte wie erwartet ein, so dass die Maschine mit der Nase gut 900 Meter weit über den Asphalt der Rollbahn schrammte und dabei einen 100 Meter langen Funkenschweif hinter sich her zog. Das rechte Triebwerk schlug auf den Boden auf und federte zurück. Und Pearson stand seit der ersten Berührung des Fahrwerks mit dem Boden "mit beiden Füßen" auf der Bremse. Weniger als 30 Meter vor den Zuschauern mit ihren Wohnmobilen, Zelten, Autos und Barbecues kam Flug AC 143 zum Stillstand. Möglicherweise hat das Wegbrechen des Bugrades dafür gesorgt, dass aufgrund der hohen Reibung die Maschine vor dem Ende der Landebahn zum Stillstand kam und damit nicht in die Autos der Zuschauer raste. |
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Aber
es war noch nicht alles vorüber! Im Bugradkasten brach ein kleines Feuer
aus, schwarzer Ölrauch stieg nach oben, und in der Maschine wurde es noch
einmal hektisch. Wie im Training hunderte Male geübt, musste die Crew nun
die Notrutschen herauslassen.
Vielleicht dachte sie auch noch an die Crashlandung einer DC9 der Air
Canada vor 4 Wochen, bei der es mehrere Tote gegeben hatte... Deshalb
musste jetzt alles sehr schnell gehen. Und noch einmal gab es ein Problem, das
letzte dieses Fluges. Da die Nase zum Boden geneigt war, hingen die
hinteren
Notrutschen fast senkrecht herab, so dass sich mehrere Personen beim
Aufprall auf
den Asphalt kleine Verletzungen zuzogen. Währenddessen wurde das Feuer im
Bugradkasten durch Mitglieder des Autosportclubs Winnipeg mit Dutzenden
von Handfeuerlöschern gelöscht. |
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Die Maschine der Air Canada war nur leicht
beschädigt (zwei Millionen US-Dollar Reparaturkosten). Sie konnte schon nach zwei Tagen weiterfliegen. Sie ist bis
heute (=2003) in Betrieb und ist als der „Gimli-Glider“ in die
Geschichte
der Luftfahrt eingegangen. Anlässlich des 20. Jahrestages dieses Ereignisses gab es am 23.07.2003 eine Feierstunde in Gimli. Natürlich waren die Original-Akteure (fast) alle dabei. Und einen Bericht gibt es auch darüber.
Im Jahre 2008 schließlich wurde diese Maschine außer
Dienst gestellt. |
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Kapitän Pearson schrieb später, dass jeder Pilot segeln können müsse. Er sorgte auch dafür, dass spätere Crews mit diesem Flug-Szenario im Simulator konfrontiert wurden; und nicht jeder Pilot brachte die Maschine heil hinunter. In mehreren Veröffentlichungen hatte Pearson immer wieder gesagt, er sei heilfroh gewesen, dass er nicht in einem Airbus gesessen habe. Ein Airbus-Computer hätte dem Piloten bei dem Versuch, ein Sideslipping-Verfahren zu fliegen, "ausgelacht" und ihm die Gefolgschaft verweigert - im Klartext: Kein Airbus wäre so zu landen gewesen. Das ist der alte Widerstreit der beiden Flugzeugbau-Philosophien zwischen Boeing und Airbus. Pearson flog weitere 10 Jahre für Air Canada, danach noch weitere 2 Jahre für eine asiatische Airline. Privat flog er weiterhin Segler. Er ging mit 60 Jahren in Pension. Er ist heute (2003) 68 Jahre alt und widmet sich seiner Pferdezucht. Der erste Offizier Quintal machte sein
Typerating auf dem Airbus A 320 für Air Canada und wurde kurze Zeit
später Flugkapitän auf der B767. Mehrfach flog er als Captain exakt
dieselbe Maschine (#604), mit der er in Gimli landete. |
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Ein
paar erstaunliche Zufälligkeiten, die diese faszinierende Geschichte
abrunden
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Quellenangabe:
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